Abschied ist Teil des Lebens

Vom Umgang mit dem Seelenschmerz            Textauszüge von Carsten Jasner, GeoWissen 2012, S. 152 

Lange Zeit war die Trauer in festgelegte Stadien eingeteilt und sollte auch durchlaufen werden. Diese These wurde von Experten nun hinterfragt und widerlegt. Was aber tun, wenn der Seelenschmerz trotzdem kein Ende nimmt?

Verluste begleiten uns ein Leben lang. Von Anbeginn müssen wir uns mit dem Trennungsschmerz auseinandersetzen. Doch ab der Lebensmitte können wir zunehmend damit rechnen, mit dem Verlust von uns nahestehenden Menschen oder von Lebenskrisen getroffen zu werden. Dies betrifft meist den Tod eines Elternteiles, den Verlust des Partners da die Beziehung zerbricht oder das fortschreitende Alter bedingt, dass wir am Arbeitsplatz  nicht mehr gebraucht werden. Das bisher mehr oder weniger gut verlaufende Leben wird in eine Unordnung  gebracht, Pläne und Hoffnungen verlieren ihre ursprüngliche Bedeutung.

Heißt es nicht oft: „Die Zeit heilt alle Wunden?“ Lässt sich der Umgang mit solchen einschneidenden Ereignissen tatsächlich erlernen? Oder besteht die potentielle Gefahr, wenn es langfristig nicht gelingt die Trauer zu verarbeiten, ernsthaft seelisch zu erkranken?

Vielfältige Emotionen werden uns in diesen Krisen begleiten, allen voran das Gefühl der Trauer. Die Evolution hat gezeigt, dass der Mensch in der Gemeinschaft stärker ist als allein. Somit gesehen ist die Trauerreaktion eine Reaktion gegen die Fähigkeit sozialer Lebewesen enge Bindungen einzugehen. Bricht demnach eine dieser Bindungen auseinander löst dies Bedrohung aus. Im Menschen kommt es durch diesen Verlust zu einer Überflutung an Stresshormonen und auf Dauer schwächt dieser Zustand das Immunsystem. Die normale Reaktionsstrategie „flee or fight“ ist hier nicht anwendbar, also richtet sich die aufgestaute Energie oft gegen uns selbst. Das seelische Gleichgewicht droht zu wanken.

Die fünf Phasen der Trauer, der anerkannten Psychiaterin und Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross sind hinlänglich bekannt: Verleugnung, Zorn, Verhandlung, Depression und Akzeptanz. Ursprünglich war dieses Phasenmodell als Richtlinie im Umgang mit sterbenden Menschen und im Verlust allgemein gedacht.  Später wendeten Wissenschaftler und Experten es als Regelwerk an. Verhielt sich ein Trauernder nicht den Phasen angepasst, war er therapiewürdig. Neueste Forschungsergebnisse haben ergeben, dass diese Modellgläubigkeit dem Kontrollbedürfnis der Gesellschaft dient. Die Unberechenbarkeit der Trauernden wird nur eine gewisse Zeit toleriert, um dann in der Modellhaftigkeit seine Ordnung zu finden.

Für den amerikanischen Psychologen George Bonanno  reagieren die Menschen auf Verlust in einer „enormen Variabilität“:  Manche äußern ihre Trauer öffentlich – andere leiden still, einige erleiden einen kurzen, intensiven Schmerz – bei anderen zieht es sich über Monate. In einer Langzeitstudie beobachtete er, dass die meisten Hinterbliebenen eines Ehepartners nach einigen Tagen oder Wochen wieder auf die Beine kommen. 10% ging es nach dem Tod sogar besser, etwa wenn der Partner schwer krank war. Nach 2 Monaten konnten sich manche schon über das Alleinsein freuen, vor allem wenn die Erinnerung an den Partner mit positiven Emotionen verbunden war. Für Bonanno gibt es keine Regeln, wie „gesundes Trauern“ verlaufen soll. Aus seiner Studie geht heraus, dass die meisten Menschen gut mit Verlust und traumatischen Erlebnissen zurechtkommen.

Jedoch bei 10% nahm der Kummer einfach kein Ende – es entwickelte sich eine „komplizierte Trauer“. Noch 1,5 Jahre nach dem Verlust fühlten sich die Hinterbliebenen bedeutungslos, schliefen schlecht und verzehrten sich nach dem Verlorenen. Werden Trauergefühle nicht zugelassen, drohen Wut, Verzweiflung und Depression. Der Übergang von einem gesunden Trauerprozess zu einer komplizierten Trauerverarbeitung ist fließend und Experten sind sich noch lange nicht einig, ab wann eine Behandlungsbedürftigkeit besteht. Es besteht eine Bandbreite zwischen 14 Tagen und mindestens 6 Monaten.

Damit es nicht erst zu einem komplizierten Trauerprozess kommt, hat der ebenfalls amerikanische Psychologe J. William Worden vier Aufgaben beschrieben:

  1. Der anfänglich geleugnete Verlust muss endgültig akzeptiert werden (Die Gefahr, dass der geliebte Mensch aus der Erinnerung verschwindet, ist unbegründet)
  2. Der Hinterbliebene soll dem Grübeln über das „Warum?“ nicht durch Betriebsamkeit oder intensives Arbeiten ausweichen
  3. Das Leben soll notwendigerweise der veränderten Situation angepasst werden (Das Leben in der Familie, mit Freunden und Arbeit neu organisieren, Erinnerungsstücke aussortieren)
  4. Die Beziehung zur verlorenen Person muss neu definiert werden, gegebene Abhängigkeit muss aufgelöst werden

Neurowissenschaftler haben bewiesen: Wer Trauergefühle zulässt – aber reguliert, sorgt für einen gesunden Trauerprozess (dualer Prozess). Die Natur hat uns damit eine Brücke gebaut. Denn im Kummer können wir konzentrierter,  reflektierter denken und arbeiten. Wir befinden uns im dualen Prozess, in den „verlust- und wiederherstellungsorientierten Phasen“. Schmerz wird zugelassen, aber es werden auch die Fragen des Alltags bearbeitet.  Diese genauere Informationsverarbeitung ist evolutionär gesehen äußerst sinnvoll, den der Hinterbliebene muss sich an die neue Situation anpassen, sie analysieren und bilanzieren. Im besten Fall geht man aus diesem Prozess sogar gestärkt hervor.  

„Der Schmerz ist der große Lehrer der Menschen. Unter seinem Hauche entfalten sich die Seelen.”                                                                                              Marie von Ebner-Eschenbach